PRO ASYL und Flüchtlingsrat Thüringen fordern sofortiges Ende der Leistungsstreichungen für Geflüchtete
Die Bundesrepublik Deutschland ist vom UN-Sozialausschuss aufgefordert worden, einen 20-jährigen Geflüchteten im „Dublin-Verfahren“, der von den Behörden im Thüringer Ilm-Kreis auf die Straße gesetzt worden war, wieder unterzubringen und mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Zum ersten Mal hat damit der UN-Sozialausschuss Deutschland für einen Verstoß gegen die im UN-Sozialpakt gewährten sozialen Menschenrechte gerügt.
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Thüringen fordern, dass die Behörden bundesweit die Praxis der Leistungsstreichungen umgehend beenden und die Bundesländer entsprechende Anweisungen treffen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Gesetzgebung zu korrigieren und die zugrunde liegende Regelung umgehend aus dem Asylbewerberleistungsgesetz zu streichen (Paragraf 1 Abs. 4 AsylbLG).
Blamabel für Deutschland
Andrea Kothen, Referentin von PRO ASYL, erklärt: „Die Entscheidung des UN-Ausschusses ist blamabel für Deutschland. Die Regierung muss sich jetzt von höchster Stelle erklären lassen, dass ein zivilisiertes Land niemanden dem Hunger und der Obdachlosigkeit aussetzt. Hätte sich der Gesetzgeber an die deutsche Verfassung gehalten, wäre es gar nicht zur UN-Beschwerde gekommen.“
Der 20 Jahre alte syrische Kriegsflüchtling hatte sich, unterstützt von seinem Anwalt Dr. Scheibenhof und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), mit einer Beschwerde an den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gewandt.
Er war im Sommer 2024 nach Deutschland geflüchtet. Nach der EU-Dublin-Verordnung lehnte das Bundesamt die Zuständigkeit für sein Asylverfahren ab, Malta sei zuständig. Im Dezember 2024 teilte das Landratsamt des Ilm-Kreises ihm mit, dass er die staatliche Unterkunft verlassen muss, keine Sozialleistungen mehr erhält und seine Gesundheitskarte abgeben muss. Ohne geregelten Zugang zu Unterkunft, Essen, warmer Kleidung und Krankenschutz lebte er fortan von der Hilfe von Freunden und Freiwilligen.
Etliche Gerichte haben verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Streichung der Leistungen
Dass es so weit kommen musste, liegt auch an den besonders restriktiven Thüringer Verhältnissen. Sabine Berninger vom Vorstand des Flüchtlingsrats Thüringen e.V.: „Leistungsstreichungen für Geflüchtete werden in etlichen Orten in Thüringen rücksichtslos durchgesetzt, selbst Kinder sind davon betroffen. Die Thüringer Landesregierung ist nun aufgefordert, diese Behördenpraxis unverzüglich zu stoppen.“
Der Beschwerde vor dem UN-Sozialausschuss war ein Eilverfahren vor dem Sozialgericht Gotha und dann vor dem Thüringer Landessozialgericht vorausgegangen. Beide Thüringer Gerichte hatten aber den Leistungsausschluss nicht gestoppt – im Gegensatz zu zahlreichen anderen Sozialgerichten bundesweit, die unter anderem unions- und verfassungsrechtliche Bedenken geäußert hatten. Das daraufhin angerufene Bundesverfassungsgericht hatte den Rechtsstreit inhaltlich nicht entschieden, sondern auf das aufenthaltsrechtliche Verfahren am Verwaltungsgericht verwiesen. Als auch dieses scheiterte, blieb nur der Weg zur UN-Beschwerde.
Bei der Eilentscheidung des UN-Sozialausschusses vom 17. Oktober 2025 handelt es sich um eine vorläufige Anordnung (interim measure). Wenn das Verfahren abschließend entschieden wird, geht es neben der Frage der Menschenrechtsverletzung auch um etwaigen Schadensersatz für den Betroffenen.
Für Fragen stehen zur Verfügung:
Emily Thümmler, Flüchtlingsrat Thüringen: presse@fluechtlingsrat-thr.de, 0155 660 600 61
Andrea Kothen, PRO ASYL: presse@proasyl.de, 069 / 24 23 14 30
Hintergrund:
Ende Oktober 2024 trat eine gesetzliche Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes durch die Ampel-Regierung in Kraft (§ 1 Abs. 4 AsylbLG). Betroffen sind Geflüchtete im sogenannten Dublin-Verfahren, für deren Asylverfahren nach Behördenentscheidung ein anderer europäischer Staat zuständig ist. Ihnen wird seither laut Gesetz das Recht auf jegliche soziale Leistung entzogen – das betrifft Unterkunft, Nahrung und Kleidung, Krankenversorgung und andere Sozialleistungen. Lediglich während einer 14-tägigen Übergangsfrist und in besonderen Härtefällen soll ein rudimentärer Teil der Leistungen weiter gewährt werden können.
Begründet wird die Regelung damit, dass die Betroffenen angeblich freiwillig in den zuständigen Staat ausreisen könnten. Im konkreten Fall hatte die Behörde nicht geprüft, ob es dem Betroffenen tatsächlich möglich war, nach Malta auszureisen. Die EU-Dublin-Verordnung sieht eine freiwillige, nichtkontrollierte Ausreise zudem gar nicht vor, sondern verlangt ein förmliches, zwischen unterschiedlichen Stellen der Staaten abgestimmtes, Überstellungsprozedere.
Fast alle Behörden wenden die Leistungsstreichung für Dublin-Fälle an. In der Praxis stellen einige Behörden jedoch noch Unterkunft und Fertigessen, andere verweigern die Leistungen ganz, die Betroffenen werden obdachlos. Im Februar 2025 hat PRO ASYL über den Fall einer kranken Frau berichtet, die bei Minustemperaturen auf die Straße gesetzt worden war.
Wenn die Betroffenen klagen, gewähren die Sozialgerichte ihnen in ganz Deutschland nahezu einhellig vorläufigen Rechtschutz und damit das vorläufige Recht auf weitere Versorgung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren.
Inzwischen gibt es über 60 entsprechende Gerichtsbeschlüsse, darunter auch von mehreren Landessozialgerichten. Den Gerichtsentscheidungen liegt vielfach die Einschätzung zugrunde, dass der Leistungsentzug europarechts- und/oder sogar verfassungswidrig ist, wie beispielsweise das Sozialgericht Karlsruhe ausführlich darstellt. Darüber hinaus weisen Gerichte darauf hin, dass Behörden verpflichtet sind, verfassungswidrige Regelungen nicht anzuwenden.
Das Land Rheinland-Pfalz sieht mit Blick auf europarechts- und verfassungsrechtliche Vorgaben keine rechtliche Handhabe für einen vollständigen Leistungsentzug. Selbst eine Leistungskürzung (anstelle der vollständigen Streichung) ist nach Auffassung vieler Expert*innen nach EU-Recht unzulässig, das Bundessozialgerichts hat dazu ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt (siehe Beschluss vom 25.07.2024, B 8 AY 6/23 R, Plädoyer des Generalanwalts vom 23. Oktober 2025).
Der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, kurz auch UN-Sozialpakt oder WSK-Pakt genannt (deutsche Abkürzung IPwskR, englische Abkürzung ICESCR), ist eines der beiden großen Menschenrechtsabkommen. Er wurde zusammen mit dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Deutschland hat den Pakt 1973 ratifiziert, seit 2023 sind durch das Fakultativprotokoll von 2008 auch individuelle Beschwerdeverfahren möglich.
Die zentralen Menschenrechte aus dem Sozialpakt sind unter anderem das Menschenrecht auf Gesundheit, Bildung, Arbeit, Wohnen, Wasser, Sanitärversorgung und Teilhabe am kulturellen Leben. Da diese Rechte laut Art. 2 Abs. 2 IPwskR ohne Diskriminierungen sicherzustellen sind, gelten sie unabhängig vom Aufenthaltsstatus auch für geflüchtete Menschen in Deutschland.










