10. Dezember 2025
Landessozialgericht Thüringen erhält „Spitze des Eisbergs“ 2025
Flüchtlingsrat Thüringen zeichnet Gericht für besonders menschenrechtsfeindliche Entscheidung zum Leistungsausschluss aus

Vor 77 Jahren verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der Flüchtlingsrat Thüringen nimmt den Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember zum Anlass, um die "Spitze des Eisbergs" zu verleihen. Mit diesem Preis werden Behörden, Institutionen und Einzelpersonen „ausgezeichnet“, die in besonderer Weise schützenswerte Rechte von Geflüchteten missachtet bzw. unbeachtet gelassen haben.

Der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. verleiht seinen diesjährigen Negativpreis „Spitze des Eisbergs“ an das Thüringer Landessozialgericht (LSG). Ausgezeichnet wird dessen Beschluss vom 16. Mai 2025, mit dem das Gericht den vollständigen Leistungsausschluss für Geflüchtete im Dublin-Verfahren als unproblematisch eingestuft hat – entgegen nahezu einhelliger Rechtsprechung bundesweit.
 
„Diese Entscheidung ist ein Tiefpunkt sozialgerichtlichen Rechtsschutzes in Thüringen“, erklärt Sabine Berninger, Vorständin des Flüchtlingsrat Thüringen e.V. „Während über 70 Sozialgerichtsbeschlüsse im Bundesgebiet die Existenzsicherung Geflüchteter schützen, ignoriert das Thüringer LSG verfassungsrechtliche Bedenken, europäische Vorgaben und die Menschenwürde.“
 
Gerichte — und damit auch das Thüringer Landessozialgericht — sind zentrale Pfeiler eines demokratischen Rechtsstaates und dem Recht allein verpflichtet. Gerade in den aktuell migrationspolitisch hoch aufgeladenen Zeiten kommt dem LSG die besondere Verantwortung zu, Grund- und Menschenrechte umfassend zu schützen und diese nicht migrationspolitisch zu relativieren.
 
Landessozialgericht ignoriert Europarecht und Grundgesetz
 
Die Eilentscheidung des Landessozialgerichtes und damit der abgelehnte Eilrechtsschutz gegen die komplette Sozialleistungsstreichung, inklusive Unterkunft, sind scharf zu kritisieren. „Das Gericht ignoriert grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien: vom Vorrang des Europarechts bis zur Pflicht, die Menschenwürde in jedem Einzelfall sicherzustellen“, sagt Berninger weiter.
 
Das LSG Thüringen verneinte in seinem Beschluss die Relevanz des Europarechts im Eilverfahren. Das ist ein klarer Verstoß gegen den Vorrang des Unionsrechts. Dass an dem vollständigen Leistungsausschluss unionsrechtliche Zweifel bestehen, hätte das LSG Thüringen erkennen und prüfen müssen. Denn zuletzt hatte das Bundessozialgericht im Juli 2024 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Vorgängerregelung im Asylbewerberleistungsgesetz zur Prüfung vorgelegt. Dabei handelte es sich um Leistungskürzungen — nicht um die aktuelle, noch restriktivere Maßnahme des Leistungsausschlusses. Das lässt den Eindruck ent-stehen, dass das LSG Thüringen weder die Entscheidung des EuGH abwarten, noch den Vorrang des Europarechts beachten wollte.
 
Bereits eine Unterschreitung des Existenzminimums kann zudem laut Grundgesetz eine Verletzung der unantastbaren Menschenwürde bedeuten. Anstatt die Grundrechte abzuwägen, erklärte das LSG Thüringen die Praxis des Leistungsausschlusses lapidar und ohne Begründung für verfassungskonform.
 
Rüge vom UN-Sozialausschuss
 
Im Oktober 2025 stellte auch der UN-Sozialausschuss eine Verletzung verbindlicher sozialer Mindeststandards fest: Der Betroffene, welcher vom LSG Thüringen den Leistungsausschluss bestätigt bekam, hatte dort eine Individualbeschwerde eingereicht. Der Ausschuss hatte im Oktober 2025 entschieden, dass dem Betroffenen vorläufig existenzsichernde Leistungen von Essen bis Unterkunft zu gewähren sind.
 
Thüringer Sonderweg widerspricht der bundesweiten Rechtsprechung
 
Mittlerweile liegen bundesweit über 70 sozialgerichtliche Beschlüsse vor, in denen Richter:innen den Leistungsausschluss für Dublin-Betroffene vorläufig aufgehoben und existenzsichernde Leistungen zugesprochen haben. Sie begründen dies im Kern mit Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der gekürzten oder gestrichenen Leistungen, Verstoß gegen das menschenwürdige Existenzminimum, der Unmöglichkeit einer „freiwilligen Ausreise“ im Dublin-Verfahren, der Umkehr der Beweislast von den Behörden hin zu den Betroffenen sowie dem Vorrang des Europarechts, wonach nationale Normen im Konfliktfall mit dem Unionsrecht unangewendet bleiben müssen.
 
Diese Linie der 70 sozialgerichtlichen Beschlüsse wurde inzwischen auch von zwei Landessozialgerichten bestätigt (LSG Hessen, LSG Niedersachsen-Bremen). Auch das Sozialgericht Magdeburg kritisiert in seinem Beschluss vom 17. September 2025 den Thüringer Beschluss. Wir schließen uns dieser Kritik an. Das Thüringer LSG ist das einzige Gericht zweiter Instanz, das den Leistungsausschluss ohne vertiefte Prüfung für unproblematisch und rechtens erklärt.
 
Thüringer Entscheidung mit Folgen: Menschen wurden hungernd und teils obdachlos zurückgelassen
 
Der Beschluss des LSG Thüringen hat in der Praxis gravierende Auswirkungen: Geflüchtete im Dublin-Verfahren wurden in Thüringen ohne Geld für Essen und Kleidung, ohne Krankenschutz und teils ohne Unterkunft zurückgelassen. Laut Deutscher Presseagentur betraf das in Thüringen bis Ende September 2025 144 Menschen, 29 davon minderjährig! Der Flüchtlingsrat Thüringen fordert die Landesregierung auf, die Praxis des Leistungsausschlusses unverzüglich zu stoppen.

„Spitze des Eisbergs“: der Negativpreis

Der Preis wird seit dem Jahr 2000 an Behörden, Institutionen oder Einzelpersonen verliehen, die in besonderer Weise schützenswerte Rechte von Geflüchteten missachtet bzw. unbeachtet gelassen haben. Eisbergspitzen sind der sichtbare Teil eines viel größeren Problems, an Eisbergen erleiden die Hoffnungen und Lebensentwürfe geflüchteter Menschen Schiffbruch.
 

Hintergrundinformationen

Gerloff, Volker/Informationsverbund Asyl und Migration e. V. (2025): Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren – oder doch?. Anmerkung zur Entscheidung des LSG Thüringen vom 16.5.2025 – L 8 AY 222/25 B ER. In: Asylmagazin 9 / 2025, S. 295 – 301.

Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (o.D.): Leistungsausschluss drängt Geflüchtete in existenzielle Not. Online aufrufbar unter: https://freiheitsrechte.org/existenzielle-not