3. November 2025
Thüringer Appell zum Thüringer Landeshaushalt 2026/27
 
Sehr geehrte Abgeordnete der Fraktionen von CDU, BSW, SPD und Die Linke im Thüringer Landtag,
 
der Thüringer Appell ist ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Sportverbände, Bildungs- und Jugendverbände, Demokratie- sowie Umweltverbände und migrantischen Selbstorganisationen. Uns eint die Sorge um die Handlungsfähigkeit des Landes, den sozialen Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit Thüringens. Seit 2023 fordern wir, Landeshaushalte rechtzeitig zu beschließen und damit die notwendige soziale, kulturelle und demokratische Infrastruktur zu sichern. Diese Angebote sind der „Kitt“ unserer Gesellschaft und schaffen Sicherheit, gerade in unsicheren Zeiten.
Wir begrüßen, dass das Parlament bis zum Jahresende den Beschluss eines Doppelhaushalts 2026/2027 anstrebt. Der vorliegende Entwurf der Thüringer Landesregierung erhebt den Anspruch, trotz angespannter finanzieller Rahmenbedingungen Stabilität und ambitionierte Ziele bei notwendigen Investitionen zu verbinden.
Zugleich sehen wir im vorgelegten Entwurf empfindliche Lücken und Einschnitte bei sozialer Sicherheit, Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt sowie im Umweltbereich. Diese können und müssen im parlamentarischen Verfahren geschlossen werden.
Unser Ziel ist es, Sie mit unseren Erfahrungen und unserem Wissen bei einer zügigen Verabschiedung des Haushalts zu unterstützen, damit erfolgreiche Projekte, Dienste und Einrichtungen sowie deren Beschäftigte nicht in Unsicherheit geraten und ihre wichtige Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger Thüringens nahtlos fortsetzen können.
 

1) Planungssicherheit & partnerschaftliche Zusammenarbeit

Nullrunde trotz Kostensteigerungen: Ein großer Teil der Zuwendungen im Sozialbereich bleibt im Ansatz unverändert. Das bedeutet faktisch Kürzungen, weil mit diesen Zuwendungen überwiegend Personal finanziert wird. Wir bitten, Tarif- und Kostensteigerungen angemessen zu berücksichtigen, da andernfalls Angebote abgebaut werden müssen. Es ist uns ein besonderes Anliegen, dass die Förderung ab 1. Januar erfolgen kann. Beschäftigte, die nicht wissen, ob eine Weiterförderung ab Januar erfolgt, mussten sich bereits arbeitssuchend melden. Hier gehen dem Gemeinwesen qualifizierte und engagierte Arbeits- und Fachkräfte, Fachwissen und Netzwerke verloren. Die Landesregierung muss sicherstellen, dass die im Haushaltsentwurf vorgesehenen Zuwendungen mit den steigenden Personal- und Sachkosten Schritt halten. Ohne eine verlässliche Indexierung beziehungsweise Dynamisierung drohen faktische Kürzungen und damit Angebotsrückgänge in wichtigen Bereichen der Daseinsvorsorge.
 
Die geplante globale Minderausgabe von 210 Millionen Euro pro Jahr erzeugt erhebliche Planungsunsicherheit für projektbezogene Fördermittel und wirkt in der Praxis willkürlich. Die ersten Erfahrungen mit der neuen Ehrenamtsförderung haben dieses Problem bereits anschaulich und schmerzlich aufgezeigt. Im Sinne von Haushaltsklarheit und -wahrheit sollte das Parlament transparent festlegen, wo Konsolidierung stattfinden soll, statt pauschaler Kürzungsvorgaben über eine globale Minderausgabe. Das stärkt auch das Vertrauen in die politische Entscheidungsfähigkeit.
 

2) Frühkindliche Bildung

Die vorgesehenen Absenkungen der Landeszuweisungen an die Kommunen um ca. 26 Mio. Euro im Jahr 2026 und 40 Mio. Euro im Jahr 2027, jeweils gegenüber 2025, bedeuten, dass die sogenannte demografische Rendite infolge des Geburtenrückgangs nicht im System verbleibt. Um die Qualität in den Einrichtungen zu erhöhen, Kindergärten, insbesondere im ländlichen Raum, zu erhalten und Thüringen als familienfreundliches Bundesland zu stärken, braucht die frühkindliche Bildung eine Reform ohne Einsparzwänge. Erster Schritt sollte sein, die Haushaltsmittel des Jahres 2025 im Doppelhaushalt zu verstetigen und den Kommunen so die Absicherung des vorhandenen Fachpersonals in der frühkindlichen Bildung zu ermöglichen. Um eine bedarfsgerechte Finanzierung durch Land und Kommunen auch nach einer Einbindung in den Kommunalen Finanzausgleich zu sichern, sollten die Zuweisungen des Landes weiterhin zweckgebunden für die Umsetzung des Kindergartengesetzes erfolgen. Zudem plädieren wir dafür, die Pauschalen für Kinder unter einem Jahr sowie für Hortkinder beizubehalten, um eine bedarfsgerechte und vielfältige Angebotsstruktur sicherzustellen. Für eine gelingende Reform ist die Beteiligung der Elternvertretungen, der freien Träger und der Gewerkschaften von Beginn an zwingend.
 

3) Jugendförderung

Die Jugendförderung ist von Kürzungen, bestenfalls stagnierenden Mittelzuweisungen, betroffen. Ab 2026 sollen die Mittel für die örtliche Jugendförderung und den Landesjugendförderplan auf das gesetzliche Minimum eingefroren werden. Das bedeutet, bei steigenden Betriebs- und Personalkosten müssen Angebote reduziert oder Stellen abgebaut werden. Schon 2026 werden einzelne Programme, wie die Ausbildung von Jugendleiterinnen und Jugendleitern, nicht auskömmlich finanziert. 2027 steht das Programm ganz vor dem Aus. Auch die gesetzlich vorgesehene Unterstützung der Jugendbildungseinrichtungen gerät dann ins Wanken. Die Folgen in der örtlichen Jugendförderung sind ebenso absehbar, es kommt zu einem schleichenden Abbau von Angeboten und Beteiligungsmöglichkeiten, besonders in der Fläche. Das wäre ein direkter Rückschritt für Teilhabe, Demokratiebildung und soziales Engagement junger Menschen. Für die Kommunen bedeutet die Reduzierung weniger Zuschüsse, höhere Eigenanteile und wachsende Personalkosten. Damit geraten gerade dort die Strukturen unter Druck, wo sie am meisten.

 

4) Schulsozialarbeit

Vorgesehen ist eine Kürzung um 750.000 Euro pro Jahr. Ohne erhebliche kommunale Aufstockung führt das faktisch zu Stellenabbau. Ein notwendiger, wie im Koalitionsvertrag vereinbarter, Ausbau und eine qualitative Erweiterung der Schulsozialarbeit können so nicht erfolgen. Derzeit gibt es nur an etwa jeder zweiten Schule Schulsozialarbeit, der Bedarf ist deutlich höher. gebraucht werden.
 

5) Hochschulen

Die Hochschulen benötigen Planungssicherheit und ausfinanzierte Rahmenbedingungen. Die bisherige Rahmenvereinbarung V sah bis 2025 jährliche Steigerungen von 4 % vor und sollte 2024/25 durch die Rahmenvereinbarung VI abgelöst werden. Stattdessen ist nun die Rahmenvereinbarung V bis 2026 verlängert, im Doppelhaushalt sind nur +3,5 % für 2026 und nur noch +1,24 % Steigerung für 2027 vorgesehen. Angesichts der absehbaren Kostenentwicklung, Tarif-, Energie-, Sachkosten, bedeutet dies real sinkende Budgets, zumal in Thüringen die Versorgungsbezüge aus den Hochschulhaushalten getragen werden. Das bindet Mittel, die für Qualität in Lehre und Forschung, Innovation und Personal gebraucht werden, sodass perspektivisch ein Stellenabbau droht.
 

6) Qualifizierung und (Arbeitsmarkt-)Integration

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lage und der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sehen wir die Kürzungen in den Bereichen der Erwachsenenbildung, der Integrationsrichtlinie und der Landesarbeitsmarktprogramme als ein dramatisches Signal an Unternehmen und Beschäftigte. Für eine positive Wirtschafts-, Arbeitsmarkt sowie Arbeits- und Fachkräfteentwicklung in Thüringen ist es unabdingbar, dass hinreichende Angebote zur (Weiter-) Qualifizierung und Vermittlung in den Arbeitsmarkt thüringenweit zur Verfügung stehen. Die Träger dieser Maßnahmen sind in hohem Maße auf Planungssicherheit und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit angewiesen. Die gekürzten Haushaltsansätze verunsichern die Projektträger und stellen erfolgreiche Projekte zur gelingenden Integration in den Arbeitsmarkt infrage.
 
Die Unsicherheiten, die durch die politischen Diskussionen, beispielsweise um die Zukunft der ESF-Förderung oder die zukünftige Ausgestaltung von Integrationsleistungen in den Arbeitsmarkt durch den Bund, hervorgerufen werden, erhöhen aus unserer Sicht die Notwendigkeit für Thüringen, die eigenen Anstrengungen für Qualifizierungs- und Vermittlungshilfen zu verstärken, um die benötigten Arbeits- und Fachkräfte für die Thüringer Wirtschaft in Zukunft zu sichern. Die geplanten Kürzungen konterkarieren dieses Ziel auf ganzer Linie.
 
Landesarbeitsmarktprogramme: Diese sollen um 29 % gekürzt werden. Allein die Mittel für die Richtlinie des Landesarbeitsmarktprogramms, deren angekündigte Neufassung leider immer noch nicht vorliegt, sollen im Jahr 2026 um 20 % gekürzt werden.
 
Erwachsenenbildung: Die Grundförderung für Volkshochschulen, freie Träger und Heimvolkshochschulen soll um 13 % gekürzt und die Förderung der inklusiven Erwachsenenbildung komplett gestrichen werden. Die geplanten Kürzungen unterlaufen die Intention des Koalitionsvertrags, die Erwachsenenbildung durch eine verlässliche Förderung ausgehend vom aktuellen Niveau und durch regelmäßige Anpassungen des Etats zu unterstützen. Sie werden sich langfristig negativ auswirken, zumal die geplante Novellierung des Thüringer Erwachsenenbildungsgesetzes (Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen), eine Festschreibung des Umfangs der Grundförderung auf den Haushaltsansatz 2026 vorsieht. Den wachsenden Aufgabenbereichen stehen so reduzierte Ressourcen gegenüber.
 
Integrationsförderung: Die geplante Neuordnung der Integrationsförderung, Zusammenlegung der Integrationsrichtlinie und der Beratung Anerkannter, plus neue dritte Säule, reduziert das Gesamtvolumen von bislang 13 Mio. Euro auf 8 Mio. Euro, also minus 40 %, und stellt damit einen dramatischen strukturellen Einschnitt dar. Besonders betroffen, bis hin zur Existenzfrage, wären die bislang über die Integrationsrichtlinie geförderten Projekte. Vor allem migrantische Organisationen können in der Säule 2 verdrängt werden. Damit sind gravierende Folgen für Kontinuität, Expertise, regionale Verankerung sowie gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt vor Ort zu erwarten.
 
Wir warnen eindringlich davor. Verlässliche Integrationsförderung ist Grundvoraussetzung für Zusammenhalt und Teilhabe. Frühzeitige, qualitativ hochwertige Angebote wie Sprachförderung, Sozialberatung und Beteiligungsstrukturen zahlen sich aus. Sie stärken Bildungserfolg, Arbeitsmarktintegration und Akzeptanz. Nötig ist dafür eine langfristig stabile, transparente und diskriminierungssensible Förderarchitektur, die auch migrantische Organisationen, einschließlich einer institutionell gestärkten Landesstruktur, als unverzichtbare Partner absichert. Besonders problematisch sind offene Punkte zur neuen Richtlinie ab dem 01.01.2026, Eigenanteile, Inhalte, Kofinanzierung von Bundesprogrammen wie „Demokratie leben!“, „Zusammenhalt durch Teilhabe“, MBE, AVB. Diese Unsicherheit gefährdet Projekte, führt zu Fachkräfteabwanderung und reißt Finanzierungslücken. Kürzungen bei der Integration bedeuten konkret weniger Zugang zum Arbeitsmarkt, höhere Konflikt- und Folgekosten sowie mehr Belastung von Kommunen, Schulen und Kitas. Am Ende leidet die Standortattraktivität Thüringens für Zuwandernde und Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen gleichermaßen.
 

7) Vielfalt & Antidiskriminierung

Bei den Maßnahmen der Bürgerbeteiligung, Partizipation und Antidiskriminierung sollen weitere Mittel 147.000 Euro eingespart werden. Dies ist im Vergleich zu 2025 eine massive Kürzung. Der tatsächliche Bedarf liegt bei mindestens 580.000 Euro. Geplante Einschnitte bei Bürgerbeteiligung, Partizipation, Demokratie- und Antidiskriminierungsarbeit würden ausgerechnet jene Strukturen schwächen, die Zusammenhalt, Resilienz und Teilhabe sichern, auch in Vereinen und Sport. In Zeiten wachsender Anfeindungen braucht es mehr, nicht weniger demokratiestärkende Angebote.
 

8) Natur- und Umweltschutz

Insgesamt stehen im Naturschutz lediglich rund 27 Millionen Euro zur Verfügung. Jeder eingesparte Euro widerspricht den Herausforderungen, denen sich der Freistaat im Natur- und Artenschutz gegenübersieht, sowie den Zielen des Koalitionsvertrags. Es handelt sich um finanzpolitisch kaum relevante Positionen, die für den Naturschutz im Freistaat jedoch von entscheidender Bedeutung sind. Eine schrittweise Reduzierung des Budgets wird den Herausforderungen in keiner Weise gerecht. Wenn die Fördermittel perspektivisch nicht steigen, verlieren nicht nur unsere Thüringer Natur, sondern auch die Menschen und die regionale Wirtschaft vor Ort. Auch der Klimaschutz ist für ein lebenswertes Thüringen von entscheidender Bedeutung. Die vorgenommenen Kürzungen müssen zurückgenommen werden, um die Thüringer Wirtschaft zukunftsfähig aufzustellen und unsere Lebensgrundlagen zu schützen. Umwelt- und Naturschutz als Schutz des Lebens sind nicht verhandelbar.
 

Unser Appell:

Bitte beraten Sie unter allen demokratischen Fraktionen den Doppelhaushalt 2026/2027 zeitnah und mit klarer Priorität für soziale Sicherheit, Bildung, Integration, Demokratie, Teilhabe und eine intakte Thüringer Natur. So sichern Sie Arbeitsplätze, vermeiden Brüche in Projekten und stärken das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Landes.
 
Die besonderen Herausforderungen der aktuellen Mehrheitsverhältnisse sind uns bewusst. Politik muss hierfür tragfähige Verfahren innerhalb des demokratischen Spektrums finden, ohne die Zivilgesellschaft zu verunsichern und Einrichtungen zu gefährden, die unser Land braucht. Unser Freistaat benötigt einen verlässlichen Finanzrahmen, damit die Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft ihren Beitrag zu sozialer Sicherheit, Demokratie und Teilhabe leisten können. Für Rückfragen und fachliche Beispiele aus den Bereichen Soziales, Bildung, Jugend, Integration, Sport und Umweltschutz stehen die unterzeichnenden Organisationen des Thüringer Appells gern zur Verfügung und bieten Ihnen ausdrücklich an, Perspektiven und Vorschläge in einer vertiefenden Diskussion mit den jeweils betroffenen Akteuren näher zu erläutern.
 
Eine Initiative von:
DGB Hessen-Thüringen | Liga der freien Wohlfahrtspflege Thüringen | Landessportbund Thüringen | Landesjugendring Thüringen | Jugendberufshilfe Thüringen | Netzwerk Demokratiebildung in Thüringen | IBS Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement gGmbH | Distanz e.V. | Offene Arbeit Erfurt | Arbeit und Leben Thüringen | VDK Hessen Thüringen | Mobit e.V. | QueerWeg Verein für Thüringen | Flüchtlingsrat Thüringen | DGB-Bildungswerk Thüringen | Migranetz Thüringen | BUND Thüringnen | Thadine Thüringer Antidiskriminierungsnetzwerk | Volkssolidarität  Thüringen | LAG ÖRT (Landesarbeitsgemeinschaft der örtlich-regionalen Träger der Jugendsozialarbeit | Naturfreundejugend Thüringen