19. September 2025
Anforderungen an die Errichtung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen in Thüringen – ein praxisorientiertes Impulspapier

Anforderungen an die Errichtung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen in Thüringen – ein praxisorientiertes Impulspapier

Redaktionsgruppe:

Flüchtlingsrat Thüringen e.V., refugio thüringen e.V., MediNetz Jena e.V., Plan International Deutschland, Evangelischer Migrationsdienst Südthüringen Suhl, DeBUG 2.0 - Kontaktstelle Ost (AWO SPI)

Stand: September 2025

  1. Einleitende Bemerkung

Diversen Presseveröffentlichungen entnehmen wir, dass die Landesregierung die Errichtung neuer Landeserstaufnahmeeinrichtungen (EAE) für Asylantragstellende plant. Errichtung und Betrieb einer EAE sind komplex. Es müssen diverse Aspekte berücksichtigt, viele Akteurinnen und Akteure und vorgegebene Bedingungen/rechtliche Regelungen umgesetzt werden. Als Organisationen mit langjährigem Erfahrungshintergrund in der Unterstützung von geflüchteten Menschen möchten wir unsere Expertise in den Planungsprozess einbringen. Die Autoren und Autorinnen stehen bereit, den Aufbau neuer EAE in Thüringen konstruktiv zu begleiten und durch ihre Mithilfe zum Gelingen des Vorhabens beizutragen.

 

  1. Versorgung von Asylantragstellenden effektiv und menschenwürdig gestalten

Im Interesse aller Beteiligten (Geflüchtete, Mitarbeitende des Sozialdienstes, zuständige Behörden) und zur Gewährleistung eines gedeihlichen Miteinanders ist es wünschenswert, dass die Versorgung der Geflüchteten gut organisiert ist. Nachfolgend nennen wir Aspekte und Bedingungen für eine gute Versorgung:

  • Effektive Ersterfassung der Geflüchteten vor der Anhörung beim BAMF unter Einbeziehung von Fachpersonal und kultursensibler Sprachmittlung mit einer festgelegten Routine anhand derer besondere Bedarfe mit entsprechenden Rechtsansprüchen sicher identifiziert werden (Clearing-Verfahren): Minderjährigkeit, Queerness/LSBTIQ*, Behinderungen, Traumatisierungen, schwere körperliche Erkrankungen und psychische Störungen, (alleinstehende) Frauen,
  • Betroffenheit von Menschenhandel, Folteropfer, Schwangerschaft, religiöse Minderheiten 
  • Erfassung von für die Integration und psychische Stabilität hilfreichen Aspekten hinsichtlich Transfer (z.B. Zuweisung zu schon in Thüringen lebenden Familienangehörigen usw.)
  • Berücksichtigung der Schutzbedarfe im gesamten weiteren Verfahren:
  • Vermittlung an entsprechende Beratungsstellen
  • Berücksichtigung der Schutzbedarfe beim Transfer und der Wohnraumzuweisung (Barrierefreiheit)
  • Sicherstellung entsprechender Versorgungsstrukturen im Sozialraum
  • Mitteilungen an das BAMF, damit ggf. Sonderbeauftragte beteiligt werden
  • Schwangerschaftsuntersuchungen und entsprechende gynäkologische Vorsorge sicherstellen
  • Sicherstellung des Zugangs zu unabhängiger Asylverfahrensberatung im direkten Umfeld der Einrichtungen
  • Sicherstellung medizinischer Versorgung (vorzugsweise mit Kassensitz) und psychosoziale Unterstützungsangebote
  • Sicherstellung ausgewogener Ernährung und Berücksichtigung von Nahrungsunverträglichkeiten
  • Berücksichtigung von ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten und Bedürfnissen (Gebetsräume)
  • Angebote zur Freizeitgestaltung sowie Begegnungs- und Rückzugsräume für diverse Altersgruppen (z.B. Teestube, Küche zum Selberkochen, Spielplatz, Spiel- und Sporträume, Fernseher, Raucherecken)
  • Versorgung mit Hygieneartikeln, Handtüchern, Bettwäsche, wetterangepasster Kleidung usw.
  • Zugang zu Telekommunikationseinrichtungen und Internet (W-LAN)
  • Einhaltung verschiedener rechtlicher Vorgaben für die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten (Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetz; Thüringer Gemeinschaftsunterkunfts- und Sozialbetreuungsverordnung; Asylgesetz (§44); EU-Aufnahmerichtlinie; Gemeinsames Europäische Asylsystem (GEAS))
  • Einhaltung der Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften (UNICEF; BMFSFJ 2021)

 

  1. Transparente Abläufe, nachvollziehbare Regeln

Schutzsuchende erreichen nach oft langen und gefährlichen Fluchtwegen Deutschland. Durch Situationen vor, während und nach der Flucht sind viele Geflüchtete stark traumatisiert und leiden unter den Folgen. Laut verschiedenen Studien haben ca. 30 Prozent geflüchteter Menschen eine Traumafolgestörung wie beispielsweise eine Posttraumatische Belastungsstörung oder depressive Erkrankungen (BAfF 2025: Psychosozialer Versorgungsbericht; S.14). Menschen in dieser Lage brauchen Sicherheit und sie müssen verstehen, was mit ihnen geschieht. Aus diesem Grund sollten folgende Punkte beachtet werden:

  • Einrichtung von frei zugänglichen Informationsangeboten zu den Regeln und Abläufen in der EAE (Einrichtung einer Internetseite und einer App, Plakate, Aushänge Ausschilderungen auf dem Gelände) in allen relevanten Sprachen (Barrierefreiheit beachten)
  • Informationen zu:
  • Beratungsangeboten (Asylverfahrensberatung, psychosoziale Beratung, Fachberatungsstellen)
  • Informationen zur medizinischen Versorgung
  • Informationen zum Ablauf des Asylverfahrens
  • Rechtzeitige Informationen zu Transfers und Zuweisungen
  • Bildungs- und Betreuungsangeboten (z.B. Kinderbetreuung; tagesstrukturierende Angebote)
  • Interessenvertretung für Geflüchtete gewährleisten
  • Ermöglichung der vom Land zur Verfügung gestellten Sprachmittlungsangebote und Schaffung der technischen Voraussetzungen (Beratungsplätze mit Display und Kamera in vertraulichem und geschütztem Setting)
  • Einrichtung eines Beschwerdemanagements (Mindeststandard 3)
  • Gewaltschutzkonzept (Mindeststandard 1) sowie Einsetzen einer Gewaltschutzbeauftragten
  • Standards für die Einstellung von Personal (Sozialbetreuung; Sicherheitsdienst etc.) als Teil der Ausschreibung sowie regelmäßige Schulungen und Deeskalationstrainings aller Mitarbeitenden (insbes. des Sicherheitspersonals) sowie Festlegung dienstrechtlicher Konsequenzen bei Verstoß)
  • Organigramm mit klar ersichtlichen Zuständigkeiten und Ansprechpartnern
  • Regelmäßige Sprechstunden von Sozialdienst und Landesverwaltungsamt
  • Einrichtung eines zentralen Infopunktes mit Öffnungszeiten auch in den späten Abendstunden (Rezeptionsbetrieb)

 

  1. Gute Zusammenarbeit aller Behörden und Dienstleistenden ermöglichen
  • Reibungsloser Datentransfer oder gemeinsame Datenbank zwischen allen beteiligten Dienststellen und Organisationen (BAMF, Landesverwaltungsamt, Sozialdienst, ABH, Jugendamt)
  • Rechtzeitige Übermittlung aller relevanten Daten und Dokumente bei Zuweisung in die Landkreise
  • Regelmäßige Arbeitstreffen (runder Tisch) mit allen relevanten Akteurinnen in der EAE
  • Fallbezogene Beteiligung von Beratungsangeboten freier Träger
  • Bei mehreren EAE-Standorten – jeweils eine präsente Leitungsperson pro Standort
  •  
  1. Schlussbemerkung

Um die Akzeptanz einer EAE und Ihrer Bewohnerinnen und Bewohner durch die einheimische Bevölkerung muss proaktiv geworben werden. Dazu ist es notwendig, frühzeitig in Bürgerforen zu informieren. Bedenken müssen aufgenommen und kompetent behandelt werden. Auch während des laufenden Betriebs sollte immer wieder durch Infoveranstaltungen, Tage der offenen Tür und Presseveröffentlichungen informiert werden. Bewohnerinnen und Bewohner der EAE sollten in das öffentliche Leben der Stadtgesellschaft aufgenommen und als Teil dieser gedacht werden (Besuch von Konzerten, Veranstaltungen und Gottesdiensten ermöglichen).  Deshalb sollte bei der Standortwahl für eine EAE darauf geachtet werden, dass die Teilnahme am öffentlichen Leben möglich ist (fußläufige Erreichbarkeit von städtischer Infrastruktur, ÖPNV).

Auch bei problematischen Vorkommnissen muss die Öffentlichkeit schnell, differenziert und ausgewogen informiert werden. Unsachlichen Gerüchten und Spekulationen sollte frühzeitig mit klaren eigenen Stellungnahmen begegnet werden.

Angesichts einer angestrebten restriktiveren Migrationspolitik muss durch politische Akteure klar Stellung bezogen werden, dass rechtsstaatliche Grundsätze, eine menschliche, inklusive Gesellschaft und Menschenwürde gegen alle Angriffe verteidigt werden.