17. Januar 2018
Stellungnahme zur aktuellen Debatte um "Altersfestellung"

Stellungnahme zur aktuellen Debatte um "Altersfestellung" vom Flüchtlingsrat Niedersachsen

Der Flüchtlingsrat lehnt die Forderung nach gesetzlich vorgeschriebener Altersdiagnostik entschieden ab.

Wir fragen uns, warum diese Debatte alle drei Jahre neu geführt werden muss: Sie geht an tatsächlichen Handlungsbedarfen vorbei und klammert die seit langer Zeit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wie auch die Positionen der einschlägigen Fachverbände gekonnt aus. Wir kritisieren die Ausrichtung und Tragweite der Diskussion, die die Lebensrealität der jungen Flüchtlinge und ihren jugendhilferechtlichen Bedarf weitgehend ausblendet. Zu den Tatsachen:

Alter ist anhand medizinischer Methoden nicht "feststellbar". Auch die durch den Landkreis Hildesheim bekannt gemachte "DNA- Methode" ermöglicht nur eine grobe Schätzung über das mögliche tatsächliche Alter. Nach uns bislang vorliegenden Untersuchungen verändern z.B. Krankheit oder Stress das Ergebnis der Tests. Gerade bei Jugendlichen, die überwiegend aus Kriegs- und Krisenländern und -situationen flüchten mussten, dürfte vom Vorliegen entsprechender Stressfaktoren auszugehen sein. Wie auch bei den anderen Methoden (u.a. Röntgen) weist die DNA-Methode eine Ungenauigkeit von +/- zwei Jahren auf. Demnach ist im Rahmen der medizinischen Verfahren lediglich eine grobe Schätzung möglich. Keines der bekannten Verfahren ist ausreichend, um eine sichere Aussage zum tatsächlichen Lebensalter zu ermöglichen. Die Ethikkomission der Bundesärztekammer empfahl daher bereits 2016, von solchen Methoden abzusehen.

Der Flüchtlingsrat lehnt demzufolge eine medizinische Altersfestsetzung ab. Es ist zielführender, auch weiterhin auf die Expertise der Fachkräfte der Jugendämter zu setzen, wenn keine Identitätspapiere vorliegen: Die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist längst gesetzlich als Bestandteil der behördlichen Altersfestsetzung verankert und folgt damit kinderrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben. Die Inaugenscheinnahme wird durch geschulte Mitarbeitende der Jugendämter durchgeführt und berücksichtigt nicht nur körperliche Merkmale, sondern u.a. auch Aspekte wie die geistige Entwicklung und Verhaltensweisen der zu untersuchenden Person.

Im Fall des Hildesheimer Jugendlichen war das Jugendamt bereits im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich nicht um einen Minderjährigen handelt. Die Einholung eines DNA-Gutachtens sehen wir insofern als eine überflüssige, teure Inszenierung an. Auch der Europarat und UN Ausschuss für die Rechte des Kindes empfehlen eine solche Priorisierung: "Vorrangig ist (...) bei der Ermittlung des Alters ein „interdisziplinärer und ganzheitlicher Ansatz“ anzuwenden.

Bei einer allzu technischen Sicht auf die Festsetzung des Alters wird überdies übersehen, dass in vielen Herkunftsländern eine exakte und zeitnahe Registrierung des Geburtstages gar nicht erfolgt. Entsprechend finden sich in vielen Pässen Geburtseinträge mit dem Datum „1. Januar …“. Es muss also gar nicht immer eine Täuschungsabsicht vorliegen, wenn das Geburtsdatum in den offiziellen Papieren Zweifel weckt. Aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit bergen die Methoden einer medizinischen Altersfestsetzung aus Sicht des Flüchtlingsrats ein erhebliches Risiko, dass Minderjährige als Erwachsene deklariert werden und notwendige Hilfen nicht erhalten.

Entscheidend ist die tatsächliche Hilfebedürftigkeit des/der Jugendlichen, nicht die Ermittlung des exakten Geburtsdatums. Jugendhilfe kann auch über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus erforderlich sein und bis zum 21. Lebensjahr bewilligt werden. Der in der öffentlichen Debatte erzeugte Eindruck, unbegleitete Minderjährige fielen mit Erreichen der Volljährigkeit aus der Förderung, ist falsch. Junge Geflüchtete ohne Eltern sind, ob noch minderjährig oder schon volljährig, in der Regel auf eine einfühlsame Begleitung und gezielte Unterstützung angewiesen, wenn sie nach monatelanger Flucht allein in Deutschland ankommen.

Daher fordern wir eine Umkehr der Debatte: Der Fokus muss wieder auf den präventiven Charakter der Kinder- und Jugendhilfe gelegt wird. Diese kann entscheidend zur Integration und Stabilisierung der jungen Menschen beitragen. Nicht medizinische Untersuchungen oder Tests geben Auskunft über den Hilfebedarf junger Flüchtlinge, sondern die fachliche Einschätzung der Jugendhilfe. Im Zweifel hat das Wohl des Kindes/Jugendlichen Vorrang vor ordnungspolitischen Interessen. Die Politik muss Verantwortung für junge Flüchtlinge übernehmen und dafür Sorge tragen, dass die jungen Menschen hier gut ankommen und angemessene Unterstützung finden. Eine allgemeine Diffamierungskampagne hilft niemandem. Wie bereits in unserem bundesweiten Appell am 14.12.17 ausgeführt, ist es ausschlaggebend, (..) "dass Politik zu den jungen Menschen sowie zu ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft auch tatsächlich steht und ihnen (Aus)Bildung und Perspektivschaffung ermöglicht, statt diese durch fortwährende gesetzliche Verschärfungen zu torpedieren und zu verhindern."

Hannover, den 17.1.2018

 


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